Buchbesprechung: Früheste Erfahrungen – ein Schlüssel zum Leben.

Wie unsere Traumata aus Schwangerschaft und Geburt ausheilen können
Von Franz Renggli PSYCHOSOZIAL-VERLAG, ISBN: 978-3837928013, 20,46 EURO

Franz Renggli ist Trauma-Psychotherapeut in Basel. Schon beinah sein gesamtes Leben lang widmet er sich der Erforschung und Behandlung von Trauma. Besonders am Herzen liegt ihm die Heilung frühester Traumatisierungen aus Schwangerschaft und Geburt. So arbeitet er sowohl mit den Kleinsten als auch mit deren Eltern. Wer mehr über seine Arbeit und über Trauma an sich wissen möchte – und das in wunderbar einfühlsamer und verständlicher Form – dem sei sein 2018 erschienenes Buch Früheste Erfahrungen – ein Schlüssel zum Leben wärmstens empfohlen. Der Titel verrät bereits die Wichtigkeit dieses Themas: ein Schlüssel für unser ganzes Leben …

Franz Renggli ist ein wunderbares Buch zum Thema »Trauma« gelungen. Klar, mit Geduld und Liebe zum Detail, präsentiert er Grundlagen, wissenschaftliche Fakten und aufregend-spannende Erkenntnisse aus der Trauma- Forschung. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Verarbeitung früher Traumata. Denn dort liegt der Ursprung für unser gesamtes Sein als Mensch: wie wir die Welt sehen, wie wir uns selbst begreifen, wie wir unser Leben meistern, all unsere Reaktionen. Schwangerschaft, Geburt und die unmittelbare Zeit danach sind wohl die sensibelsten Phasen im Leben eines Menschen. Hier sind wir offener, empfänglicher, prägbarer als jemals sonst in unserem Leben. Passieren hier Traumatisierungen, wirkt sich das elementar auf unser Nervensystem aus. Und genau dort liegt laut Renggli – und vieler anderer Trauma- TherapeutInnen – die Heilungschance: im Körper. Deshalb widmet der Autor in seinem Buch auch einen entscheidenden Teil seiner persönlichen Körperarbeit mit betroffenen Menschen. Er beschreibt seine Art der »körperlichen Aufstellungsarbeit«, in der oft Geburtsprozesse »nachgestellt« und begleitet werden. Zwischen die theoretischen und praxisbezogenen Kapitel streut Renggli unzählige und umfangreiche Fallbeispiele, in denen sowohl seine Vorgehensweisen, seine Haltung wie auch seine seine umfassende Erfahrung und ja, auch die teilweise unglaublichen Auswirkungen früher Traumatisierungen nachvollzogen werden können.

Renggli verwendet eine verständliche Sprache, auch für komplexere Sachverhalte. Aber es ist die Haltung, die zwischen den Zeilen mitschwingt, die so wohltuend ist. Rengglis Ausführungen sind von tiefem Respekt geprägt. So macht er deutlich, dass wir »von der ersten Sekunde an« Menschen sind. Also bereits ab der Zeugung und ab der Zeit im Mutterleib. Das Baby ist ein fühlendes und verstehendes Wesen. Gerade in einer Zeit, in der es nach wie vor nicht selbstverständlich ist, dass junge Menschen als Subjekte gesehen werden, ist allein die Ausdrucksweise in diesem Buch, der »Geruch«, der darunter liegt, wohltuend, bemerkenswert und heilsam. Wunderschön finde ich auch sein Mitgefühl und Verständnis für die Eltern. Klar legt Renggli dar, was Eltern an Gefühlen zu bewältigen haben – bereits bei einer natürlich und unkompliziert verlaufenden Geburt. Und erst recht, wenn es Schwierigkeiten gibt. Für Renggli ist klar, dass der junge Mensch das Leben seiner Eltern komplett verändert, weil diese zwangsläufig mit ihren eigenen tiefen Wunden in Kontakt kommen. Sind sie aber bereit, das als Chance zu sehen, in ihrer eigenen frühen Geschichte zu forschen, sich zu entwickeln und sich nachzunähren, ist das Elternsein die wohl beste Möglichkeit für persönliches Wachstum hinein in ein immer glücklicheres Leben. Ganz eindeutig positioniert sich Renggli auch auf der Seite der Mütter, die oft – haben sie einmal das Wissen verinnerlicht, wie sehr die Zeit im Bauch sowie die Geburt den ihnen anvertrauten jungen Menschen prägen – von heftigen Schuldgefühlen geplagt und von der großen Verantwortung erdrückt werden. Renggli weist immer wieder darauf hin, dass der Vater in genau demselben Maße mitprägend und mitgestaltend im Leben seines Kindes ist; sei es noch im Bauch der Mutter oder wenn es bereits geboren ist. Er nimmt die Väter in die liebevolle Verantwortung, ihren Teil der Heilungs- und Erkenntnisarbeit beizutragen. Der Autor entlastet außerdem das Individuum generell. Ihm ist bewusst, wie stark die Menschheit gesamtgesellschaftlich traumatisiert ist und lädt auch kurz in die spannenden geschichtlichen Zusammenhänge ein.

Insgesamt bietet das Buch ein Feuerwerk aus erstaunlichen Tatsachen und Erkenntnissen aus der Trauma-Forschung. So ist schon lange nachweisbar, dass Babys und Kleinkinder Sprache verstehen. Von Anfang an; lange bevor sie die Sprache aktiv erworben haben. Dabei verstehen sie die Äußerungen nicht »konkret«, sondern nehmen deren Bedeutung auf anderer Ebene wahr. Auch gibt es Studien darüber, dass der junge Mensch im Bauch der Mutter alles imitiert, was Mutter und Vater machen. Schleckt die Mutter ein Eis, macht das Baby auch Schleckbewegungen. Streicht der Vater über den Bauch, vollführt das Baby ebenfalls Streichelbewegungen. Sehen kann es die Eltern nicht. Aber auf einer Ebene spüren, die uns klarmachen sollte, wie sehr wir verbunden sind und wie prägend diese frühe Zeit ist. Renggli erzählt auch von den Auswirkungen des immer mehr zum Usus werdenden Kaiserschnitts. Wie auch von der Erlebenswelt Frühgeborener auf der Intensivstation. Dabei erwähnt er immer wieder »spannende Menschen«, Wegbereiter hin zu einem neuen Verständnis für die Sanftheit, die Achtsamkeit, den Respekt, den es braucht, uns Menschenwesen artgerecht ins Leben zu führen.

Das Buch ist spannend zu lesen wie ein Krimi. Wie eine Offenbarung. Es spricht klare Worte über die Herausforderungen, die aus Erschütterungen gerade der frühen Lebenszeit resultieren können. Gleichzeitig ist das Buch eine einzige Ermutigung, ein positiver Glaube an die Widerstands- und Entwicklungskraft des Menschen. Ja, es macht Mut, sich mit seiner eigenen Geschichte zu beschäftigen und darauf zu vertrauen, dass wir Menschen fähig zum Wachstum, zur Transformation und zum Glücklichsein sind. Danke, Franz Renggli!

 

Susanne Sommer

lebt in Österreich, ist engagierte Mama eines neunjährigen, freilernenden Sohnes, Autorin und Gestalterin. Sie setzt sich in Sachartikeln und Interviews u. a. mit den Themen »Selbstbestimmtes Lernen und Leben«, »Geburt«, »Trauma« und »Muttersein« auseinander. Schreibt außerdem Lyrik und Kinderbücher: Willi Wunder, See-le-ben, Vom Wolkenschauen und Träumegießen, Seiten einer Jungseefrau. Mehr unter www.textbewegungen.at.