Fuß mit Schildkröten

Das Feuer der Begeisterung

Jeder Moment im Leben mit einem jungen Menschen ist eine Geschichte der Begeisterung. Eine davon möchte ich erzählen. Mein Sohn war 1,5 Jahre alt, als sich sein Interesse an Tieren zeigte. Damals blätterte er am liebsten in unserer Enzyklopädie, wollte jeden Trivial- und wissenschaftlichen Namen wissen und kannte bald das gesamte Werk auswendig. Nach unzählbaren Besuchen in Zoos und im Naturhistorischen Museum schiffte er sich im prähistorischen Hafen der Dinosaurier ein. Mittlerweile 7-jährig hat er sich ein wahres Expertenwissen angeeignet. Seine Begeisterung hat mich mitgerissen. Wie der Lavastrom urzeitlicher Vulkane, deren unbändige Aktivität – gepaart mit einem kolossalen Erdenbesucher aus dem All – schließlich auch das Ende der „schrecklichen Echsen“ brachte. Aber ihre Spuren, die sind noch da. Unter anderem in unserem Wohnzimmer. Wörter wie Ornithischier und Saurischier sind hier alltäglich; genau wie Pubis- und Chevronknochen, Gastro- und Koprolithen, Klimaveränderung, Massenaussterben, Evolutionstheorie. Trias, Jura, Kreide.

Die Dinos waren der Aufhänger. An ihrer Hand manövriert mein Sohn seither zielsicher durch die Meere des Wissens. Geschichte, Biologie, Geografie, Paläontologie – alles verbindet sich. Mein Sohn holt Bücher und Fachmagazine ins Boot seiner Recherchen. Wir schreiben Briefe an Zoos, Dinoparks und Museen. Unser Haus ist von Knete-, Papp- und Lego-Dinos bevölkert. Zeichnungen stapeln sich. Der Sandbereich im Garten wurde zu „Jurassic Park“. Quasi nebenbei eignete sich mein Sohn das Lesen und einfache Rechenoperationen an. Wie das genau passiert ist? Kann ich nicht sagen. Er wohl auch nicht. Es ist einfach die logische Konsequenz aus einer Umgebung von Buchstaben und Zahlen gepaart mit der Triebfeder der Begeisterung. Von den Dinosauriern fand mein Sohn übrigens mühelos den Weg zu den Drachenwesen der Mythologie. Götter, Halbgöttinnen, Helden, Nymphen – alle versammelt in unseren vier Wänden. Wie die Olympische Fackel entzündet eine Geschichte die nächste. Eine unendliche Geschichte.

Und, ist das nun etwas Außergewöhnliches? Nein. Es ist lediglich die Beschreibung eines Vorgangs, der alle Menschen eint: das Lernen durch Begeisterung. Das Menschenhirn saugt alles auf, wo es Begeisterung erlebt. Immer dort, wo der „emotionale Funke“ überspringt. Das Besondere an der Geschichte meines Sohnes ist „nur“, dass niemand diesen Vorgang unterbricht. Was leider oft passiert. Und zwar immer dann, wenn die eigene Begeisterung zugedeckt wird von Ideen und Vorgaben anderer. Zum Beispiel wenn die Götter aus dem Bildungsolymp Konzepte ersinnen und an Schicksalsfäden über die Menschenhäupter legen. Aber wie wir aus der griechischen Mythologie wissen: Auch Götter irren. Und so möchte ich an alle Irdischen appellieren: Holt eure Begeisterung aus der Unterwelt zurück, lebt euer persönliches Heldentum und lasst euren Kindern ihre gottgegebene Einzigartigkeit!

 

Susanne Sommer, 2021