Das ABC des natürlichen Lernens – D

Freilernen – ein Begriff, der häufig viele Fragen offenlässt. Das ABC des natürlichen Lernens sammelt und erklärt die wesentlichen Begriffe des Freilernens.

HEIDRUN KRISA & SUSANNE SOMMER

 

D wie Deschooling

Schule in der Art, wie wir sie kennen, macht etwas mit jedem von uns. Je länger wir der Schulstruktur ausgesetzt sind, umso tiefer verinnerlichen wir das ihr zugrunde liegende Denken von Hierarchie, Konkurrenz und Anpassung. Es formt uns und unsere Wahrnehmung und überdeckt nicht selten das, was wir selbst fühlen und für wichtig halten. Der Prozess des Deschoolings, zu Deutsch »Entschulung«, beschreibt eine Entwicklung des Wiederzu- sich-findens, eine Entwicklung zurück zu den eigenen Interessen und Wichtigkeiten. Dieser Weg ist kein einfacher und geprägt von vielen Selbstzweifeln: Darf ich so sein? Wieso will mich die Gesellschaft anders haben?

Kinder und Jugendliche, die aus der Schule aussteigen, brauchen eine einfühlsame Begleitung in ihrem direkten Umfeld, um damit klarzukommen. Wenn sie sich zurückziehen – ein wichtiger Schutzmechanismus – braucht es viel Fingerspitzengefühl, um ihnen zu vermitteln: »Ich hab dich lieb, so wie du bist!« Wenn auch wir Eltern uns unsicher fühlen, den Druck der Gesellschaft spüren, wird es noch komplizierter. Wir müssen darauf achten, dass wir zwischen unseren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen und denen unserer Kinder unterscheiden. Für erstere sind wir selbst zuständig; zweitere dürfen wir unseren Kindern zwar zutrauen und auch das Vertrauen haben, dass sie selbst damit gut umgehen können, aber wir sind auch gefordert, sie dabei gut zu begleiten. Dabei dürfen wir unsere Werte neu ordnen und manches gehen lassen, was uns in der Schule vermittelt wurde. Alles in allem können wir den Deschooling-Prozess als einen Reinigungsprozess verstehen, der Zeit braucht, der wichtig, sinnvoll und heilsam ist und die Basis dafür legt, dass etwas Neues entstehen kann.

 

D wie Denkmuster

Wiederkehrende Muster in unserem Denken und Verhalten haben eine wichtige biologische Funktion. Sie helfen uns dabei, unsere Umwelt zu verstehen, unsere Erfahrungen einzuordnen und uns im Alltag zurechtzufinden. Immer jedoch haben wir die Möglichkeit, um nicht zu sagen die Verpflichtung, unser Tun und Handeln zu hinterfragen, zu verändern und an die Situation anzupassen. Für die eigene Persönlichkeitsentwicklung kann es sehr lohnend sein, die eigenen Denkmuster genauer unter die Lupe zu nehmen.

Im Kontext des Freilernens werden in der Gesellschaft übliche Denkmuster aufgebrochen (z. B. Lernen findet in der Schule statt. Freilerner:innen finden keine Freund:innen.), und das neue Denken löst Widerstand aus. Das bedeutet, dass Eltern, die diesen Weg gehen, nicht nur mit ihrer eigenen Unsicherheit konfrontiert sind, sondern auch in ihrem Umfeld wenig Unterstützung finden. Im sprichwörtlichen Sinne »eingefahrene«, nämlich neuronal gefestigte Denk- und Verhaltensmuster zu verändern ist immer mit einem nicht zu unterschätzenden Energieaufwand verbunden – bei sich selbst und bei anderen Menschen noch viel mehr. Es ist nicht angenehm, die eigene Komfortzone zu verlassen und eine bisher eingenommene Sichtweise zu hinterfragen.

Die Antwort darauf ist, unsere menschliche Neugier und Experimentierfreudigkeit wertzuschätzen und uns zu erhalten. Öffnen wir uns auch ungewöhnlichen Ideen und lassen wir uns von der Lebendigkeit der freilernenden Menschen inspirieren!

 

D wie Druck

Ein Satz, der bei mir (Heidrun Krisa) im Physikunterricht hängengeblieben ist, lautet: Druck erzeugt Gegendruck! Auch wenn uns der Lehrer damit die physikalischen Gesetzmäßigkeiten vermitteln wollte, hat der Satz ebenso im psychologischen Kontext seine nicht abstreitbare Wirkung: Sobald wir unter Druck gesetzt werden, versuchen wir uns zu widersetzen. Wir möchten nicht zu etwas gebracht werden, möchten unsere Entscheidungen frei von Manipulation treffen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist es ein Leichtes zu erkennen, dass auch junge Menschen ihre jeweiligen Lernerfahrungen am besten ohne Druck machen. Da wir alle ohnehin gewissen Zwängen und Unwägbarkeiten ausgesetzt sind, liegt es in der Natur der Sache, dass junge Menschen lernen, damit umzugehen. Wir müssen ihnen keine Lehre erteilen, indem wir noch zusätzlich Druck auf sie ausüben.

Wenn wir Menschen spürbaren Druck, z. B. Zeitdruck, erfahren, mobilisiert der Körper das Stresssystem. Mithilfe der Stresshormone versucht unser Körper mit den Anforderungen zurechtzukommen, wenn das aber nicht möglich ist, macht uns der weiterhin aufrecht erhaltene Druck krank. Daher lautet mein Appell: Nehmen wir den Druck weg, wo immer es geht! Freilernen ist der beste Beweis dafür, dass ganz ohne Druck von außen die besten Erfolge erzielt werden.