Andere Länder – andere Sitten. Andere Gesetze – andere Bildung (unerzogen)

Regeln und Gesetze sind nicht in Stein gemeißelt, wie die aktuelle Situation rund um den Globus zeigt. Was von manchen als alternativlos bezeichnet wird, kann verändert und neu gedacht werden. Die Verwalter und Verfechter des Bildungssystems müssen sich selbst hinterfragen und auch informelle Bildungswege zulassen. Dass dies keine utopische Forderung ist, zeigt ein Blick über den Tellerrand.

Ein Mann betritt eine Bank. Er ist bis über die Nase maskiert, hat seine Mütze tief in die Stirn gezogen und schreitet mit den Händen in den ausgebeulten Manteltaschen auf den Schalter zu. Die Bankangestellte ist alarmiert, ihr Puls steigt rapide an, die Stressreaktion des Körpers nimmt Fahrt auf. Sie hat jedoch sofort den einstudierten Notfallplan im Kopf und drückt geistesgegenwärtig auf den Alarmknopf. In wenigen Minuten wird – hoffentlich rechtzeitig – die Polizei eintreffen und den Bankräuber überwältigen. Das war im Jahr 2019. Ein Jahr später lösen das gleiche Verhalten und Aussehen des Mannes ganz andere Gefühle und Reaktionen der Bankangestellten aus. Sie lächelt, sofern unter ihrer eigenen Maske erkennbar, dem Kunden zu und sagt freundlich: »Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

Während 2019 ein Vermummungsverbot, in manchen Ländern sogar an allen öffentlichen Orten, galt, wurde 2020 fast überall die allgemeine Maskenpflicht eingeführt. Ein verändertes Gesetz führte also zu konträren Verhaltensweisen und sogar zu unterschiedlichen Gefühlslagen. Die Normen haben sich verschoben. Auch die Art des Schulunterrichts wurde geändert. Galt bis vor Kurzem in Deutschland strenge Schulanwesenheitspflicht, wird in Corona-Zeiten von allen Schüler:innen plötzlich Homeschooling verlangt.

Homeschooling und Unschooling

Homeschooling in Corona-Zeiten? Was heute neudeutsch als Homeschooling oder Distance Learning bezeichnet wird, hat freilich recht wenig damit zu tun, was in anderen Ländern längst etabliert und legal ist. Die Unterschiede beruhen vor allem auf Freiwilligkeit, größerer Methodenfreiheit und freier Zeiteinteilung. Aber auch das Homeschooling, das anderswo seit vielen Jahren möglich ist, unterscheidet sich grundsätzlich vom Freilernen, Frei sich bilden, Self-directed Learning, Unschooling – oder wie immer man es nennen will. Susanne Sommer hat es in ihrem Artikel mit dem Titel »Lernen ist persönlich. Freilernen, ein Erklärungsversuch« (unerzogen Magazin 4/19) so treffend beschrieben: »Beim Freilernen geht es also nicht um ein weiteres pädagogisches Regelwerk, sondern um einen anderen Blick auf das Lernen als höchstpersönliches und natürliches Bedürfnis jedes Menschen und gleichzeitig um eine andere Haltung dem jungen Menschen gegenüber – als gleichwertiger und gleichwürdiger Mitmensch.« Freilernen geht von den Interessen und Bedürfnissen des jungen Menschen aus, während Unterricht, sei es in der Schule oder zu Hause, einen vorgegebenen Lehrplan erfüllt. Erfüllen soll.

Aber in welchen Ländern sind freie Bildungswege legal möglich? Wo gibt es eigentlich die Gelegenheit zur außerschulischen Bildung? Wie steht es mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen in diesen Ländern? Allgemein bekannt dürfte sein, dass außerschulische Bildung in den USA, Kanada, Australien und Neuseeland seit Jahrzehnten erlaubt ist und teilweise sogar gefördert wird. Die meisten dieser jungen Menschen werden von den eigenen Eltern unterrichtet. Seit geraumer Zeit nimmt auch das sogenannte Unschooling, das selbstbestimmte Lernen außerhalb der Schule, an Beliebtheit zu. Der Begriff Unschooling wurde in den 1970er Jahren vom ehemaligen Lehrer, Autor und Bildungstheoretiker John Holt geprägt. Es gibt keine gesicherten Daten über die Anzahl von Unschoolern in den USA, aber die Zahl scheint rasch zu wachsen. Gina Riley und Peter Gray geben in Grown unschoolers’ experiences with higher education and employment: Report II on a survey of 75 unschooled adults an, dass die Zahl der schulfrei lebenden jungen Menschen von etwa 850.000 im Jahr 1999 auf ungefähr 1.770.000 im Jahr 2011 anstieg. Es wird geschätzt, dass sich grob 10 % davon frei bilden. Falls diese Schätzung stimmt, so beträgt die Zahl der jungen Menschen, die aktuell in den Vereinigten Staaten nicht unterrichtet werden, mindestens 200.000. Eher mehr, wenn man von einem weiteren Anstieg ausgeht.

Gut erforscht: Lernen ist frei, selbstbestimmt und individuell

Müssen wir uns um die Bildung dieser vielen Menschen Sorgen machen? Nein, denn wie Lernen funktioniert, ist wissenschaftlich besser erforscht als wir glauben (sollen), wie die Kognitionsforscherin und Linguistin Marie-Sophie Frei schreibt (unerzogen Magazin 1/20): »Vor kognitionswissenschaftlichem Hintergrund lernen junge Menschen, die sich selbstbestimmt, inhaltlich frei und individuell bilden, am natürlichsten, nachhaltigsten und erfolgreichsten. Ebenso wie sie den Erstspracherwerb aus eigenen sozialen Bedürfnissen als Teil ihres individuellen Entwicklungs- und Reifeprozesses ohne von außen festgesetztem Lehrplan vollzogen haben, lernen sie aus intrinsischer Motivation weiter. Sie lernen bezüglich Inhalte und Methoden absolut autonom, situations- und bedürfnisorientiert, aus eigenem Antrieb und aus ihrer angeborenen Neugierde heraus. Ihr individueller Reifegrad und Entwicklungsstand bestimmt, was für den Einzelnen wann dran ist.« Wissenschaftliche Studien dazu gibt es viele, mehr darüber später.

Europas Bildungssysteme im Vergleich

In Europa gibt es mehr Bildungssysteme als Länder. Wie aus dem Eurydice-Bericht der Europäischen Kommission4 hervorgeht, sind die Richtlinien für den sogenannten »häuslichen Unterricht« in 43 europäischen Bildungssystemen aus der EU, des EWR und der EU-Bewerberländer sehr unterschiedlich. In 28 der verglichenen Bildungssysteme ist außerschulische Bildung zulässig, in den meisten der übrigen 15 Länder nur in Ausnahmefällen. In vielen Ländern muss die Genehmigung, so wie in Großbritannien, gar nicht oder auf lokaler Ebene der Gemeinde oder Schule beantragt werden. Lediglich in sechs Ländern ist die oberste Behörde zuständig. In vielen Ländern sind Prüfungen vorgesehen, wobei diese nur in acht Ländern – wie in Österreich – jährlich oder sogar noch häufiger stattfinden. In Belgien müssen Prüfungen zu zwei Zeitpunkten gemacht werden: am Ende des Primarbereichs und im Alter von 16 Jahren. In Italien sind jährliche Eignungsprüfungen abzulegen, ein Durchfallen ist aber praktisch nicht möglich, wie Insider berichten. In einigen Ländern sind Überprüfungen der Lernfortschritte oder der Qualität des Unterrichts durch Kontrollen oder Gespräche vorgesehen. In Dänemark, England, Wales, Schottland, Nordirland, Irland, Liechtenstein, Schweiz, Norwegen, Niederlande, Luxemburg und Finnland müssen keine Prüfungen verpflichtend abgelegt werden.

In Großbritannien erklären Richtlinien des Ministeriums den lokalen Behörden das Recht der Eltern, ihren Kindern »freie Bildung zu Hause« zu ermöglichen. Sie weisen darauf hin, dass die Behörden nicht berechtigt sind zu verlangen, dass sich die Betroffenen an den nationalen Lehrplan halten, Unterricht abhalten, die Arbeiten ihrer Kinder korrigieren, deren Fortschritte dokumentieren oder Entwicklungsziele festlegen. Auch Prüfungen sind nicht verpflichtend. Die Haltung der Behörden ist unterstützend, nicht kontrollierend oder strafend. Das Best-Practice-Beispiel Großbritannien verdeutlicht hier, in welche Richtung eine behördliche Begleitung gehen kann. So wird selbstbestimmte, freie Bildung ermöglicht.

In Deutschland und wenigen anderen europäischen Staaten wie Bosnien und Herzegowina, Albanien oder Nordmazedonien hingegen ist die rechtliche Situation besonders unbefriedigend. Es herrscht Schulbesuchspflicht, die Möglichkeit der außerschulischen Bildung ist gar nicht oder nur unter außergewöhnlichen Umständen wie z. B. im langfristigen Krankheitsfall oder bei Blutfehde (Albanien, im Ernst!) vorgesehen. Dass es in Deutschland trotzdem Freilerner und eine entsprechende Szene gibt, ist den Leser:innen des unerzogen Magazins wohlbekannt. Sie riskieren dabei Verwaltungsstrafen und Gerichtsprozesse wegen Kindeswohlgefährdung. Es ist jedoch kaum zu argumentieren und völlig unplausibel, warum etwas, was in Großbritannien und anderswo legal ist und sogar behördlich unterstützt wird, in Deutschland oder Österreich das Kindeswohl grundsätzlich gefährden soll. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, ohne jegliche wissenschaftliche Evidenz zu beachten. Das liegt wohl daran, dass im gesamten angelsächsischen Sprachraum bereits reichhaltige positive Erfahrungen mit dem Freilernen gemacht wurden und auch entsprechende Forschungsergebnisse vorhanden sind. Daher ist die Haltung der Politik, der Behörden und der Gesellschaft dem Freilernen gegenüber deutlich entspannter und offener.

In der EU scheint die Bildungspolitik insgesamt enger, einseitiger und härter zu werden. Der Zeitgeist der Kontrolle, Standardisierung, Direktivität und Top-Down-Politik spiegelt sich auch in den Bildungssystemen wider. In Frankreich plant die Regierung Macron, den häuslichen Unterricht und somit auch das Freilernen gänzlich zu verbieten. Die Freiheit, einer der Grundwerte in der französischen Verfassung, wird damit massiv eingeschränkt. Noch besteht die Möglichkeit, dies abzuwenden. Internationale Solidarität kann durch Protestschreiben an den Präsidenten oder die französische Botschaft gezeigt werden.

Gut erforscht: Außerschulische Bildung vs. Schulbildung

Doch nun zu den Forschungsergebnissen. Im Tagungsband Selbstbestimmte Bildungswege als Kindeswohlgefährdung? liefert Dr. Roland Thomaschke einen guten Überblick über den Stand der wissenschaftlichen Forschung. In den Untersuchungen wird meistens keine Unterscheidung nach der Art des Homeschoolings gemacht, man kann aber, wie bereits erwähnt, davon ausgehen, dass ca. 10 % selbstbestimmt lernen und ein Großteil eine Mischform zwischen gezieltem Unterricht und freiem Lernen praktiziert. Die Studien zeigen, im Gegensatz zur verbreiteten Meinung, übereinstimmend erhebliche Leistungsvorteile von außerschulisch sich Bildenden gegenüber »präsenzbeschulten« Teilnehmenden, und zwar in allen gemessenen Kompetenzen! Da nicht immer klar ist, ob die außerschulische Bildung tatsächlich der entscheidende Faktor für das bessere Abschneiden ist und vielleicht soziale Faktoren eine große Rolle spielen, wurden in einigen Studien Stichproben verwendet, die bezüglich anderer möglicher Einflussfaktoren angeglichen sind oder in denen diese Einflussfaktoren statistisch herausgerechnet wurden. In diesen Studien waren die Vorteile von Homeschoolern gegenüber Regelschülern noch verlässlich nachweisbar, fielen allerdings in den meisten Kompetenzbereichen weniger deutlich aus. Vor allem für sprachliche Kompetenzen wurden auch unter diesen kontrollierten Bedingungen deutliche Leistungsvorteile für junge Menschen, die sich außerschulisch bilden, festgestellt.

Auch hinsichtlich der Sozialkompetenzen zeigen die meisten Untersuchungen signifikant bessere Ergebnisse bei Homeschooling. Hier wurden überdurchschnittliche Werte für Emotionale Intelligenz, Empathie, Verantwortungsbewusstsein, soziale Problemlösungskompetenz, Flexibilität und Beziehungsqualität beobachtet. Einige Ergebnisse:

  • Die freundschaftlichen Beziehungen außerschulisch sich Bildender weisen größere Nähe auf und sind weniger konfliktanfällig als die Freundschaften »präsenzbeschulter« Schüler.
  • Bei Homeschoolern zeigen sich signifikant seltener Problemverhaltensweisen (Mobbing, Aggression etc.) und signifikant häufiger prosoziale Verhaltensweisen.
  • Homeschooler haben im Durchschnitt ein stärkeres Selbstbestimmungs- und Unabhängigkeitsgefühl.
  • Homeschooler sind häufiger intrinsisch motiviert. Wie zahlreiche Studien belegen, sind intrinsisch motivierte Menschen generell zufriedener, gesünder, produktiver und erbringen bessere Leistungen.
  • Homeschooler erreichen höhere Führungsqualitäten und höhere unternehmerische Kompetenz.
  • Die politisch weltanschauliche Toleranz ist bei außerschulischer Bildung signifikant höher als bei Kindern und Jugendlichen, die eine Schule besuchen.
  • Homeschooler zeigen signifikant mehr zivilgesellschaftliches Engagement und beteiligen sich durchschnittlich öfter an ehrenamtlicher Arbeit.
  • Junge Menschen, die sich außerschulisch bilden, weisen eine signifikant höhere Lebenszufriedenheit auf und zeigen ein geringeres Maß an nichtklinischer Depression. Sie sind im Durchschnitt weniger gestresst und verspüren seltener das Gefühl von Orientierungslosigkeit oder genereller Müdigkeit.
  • In Untersuchungen der Sozialkompetenz zeigen sich bei Schülerinnen meistens bessere Ergebnisse als bei Schülern. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede sind im Homeschooling weitaus geringer oder sogar gar nicht messbar. Das legt die Vermutung nahe, dass die sozialen Interaktionen in Schulen geschlechterstereotypische Verhaltensweisen stärker begünstigen, als dies im Umfeld moderner Familien der Fall ist.
  • Ehemalige Homeschooler, die bereits im Berufsleben stehen, sind in ihrem Leben insgesamt glücklicher, mit ihrem Job und ihrer finanziellen Situation zufriedener und geben häufiger an, durch ihre eigene Arbeit und weniger durch Glück oder die Hilfe anderer beruflich erfolgreich zu sein als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Studien, die die Auswirkungen selbstbestimmter, außerschulischer Bildung im Gegensatz zu klassischem Heimunterricht untersuchten, wie jene von Peter Gray und Gina Riley, zeigen zumindest keine Nachteile der selbstbestimmten Bildungsform. Im Erwachsenenalter geben die meisten an, glücklich mit der Nicht-Beschulung gewesen zu sein. Fast alle schätzen die Freiheit, die es ihnen ermöglichte, ihren eigenen Interessen nachzugehen, und viele berichten, dass das freie Lernen ihre Fähigkeiten der Selbstmotivation, Eigenregie, Eigenverantwortung und des kontinuierlichen Lernens förderte. Die meisten geben an, dass sie als Freilerner ein befriedigendes und vielfältiges Sozialleben hatten. Über 80 % der Befragten geben an, dass sie ihren Bildungsweg in irgendeiner Form der formellen höheren Bildung fortgesetzt haben. Sie hatten keine großen Schwierigkeiten, höhere institutionelle Bildung zu erlangen (College, Universität) und sich dort an die akademischen Erfordernisse anzupassen. Was die berufliche Laufbahn betrifft, sind die meisten erwerbstätig und finanziell unabhängig. Die meisten der ehemaligen Freilerner vertreten die Meinung, dass das selbstbestimmte Lernen sie zu einer höheren Bildung befähigt hat, indem es ihr Verständnis für Selbstverantwortung, Selbstmotivation und Freude am Lernen gefördert hat.

Die Freiheit wegzugehen

Es gibt keine empirischen Hinweise auf Bildungs- oder Sozialisationsdefizite bei Menschen, die keine Schule besucht haben. »Junge Menschen brauchen eine anregende, erforschbare Umgebung mit anderen Menschen jeden Alters, die sich sozial verhalten. Sie brauchen Kontinuität und Zeit für sich, um ihre Erfahrungen gut verarbeiten zu können«, schreibt die Verhaltensbiologin Heidrun Krisa (unerzogen Magazin 2/20). Und: »Es muss immer die Möglichkeit geben, Gruppensituationen zu verlassen, wenn sie als unangenehm erlebt werden.« Was in den meisten Lebenssituationen der Fall ist – außer in der Schule, beim Militär und im Gefängnis. Einen Job kann man kündigen, während die Schule zu verlassen schon bedeutend schwieriger ist und weitreichende Konsequenzen nach sich zieht.

Nicht in Stein gemeißelt

Wie gegenwärtig zu sehen ist, erweist sich die Politik als sehr einfallsreich, wenn es darum geht, Gesetze schnell und radikal zu ändern. Das darf, nein muss – im Gegensatz zu den derzeitigen Freiheitseinschränkungen – auch zu größerer Freiheit, mehr Vielfalt und zu einer Erhöhung der Wahlmöglichkeiten führen. Was läge näher, als die Gesetze, die dem Bildungssystem zugrunde liegen, zu überarbeiten und den heutigen und zukünftigen Erfordernissen anzupassen? Wie sollen Absolventen eines Bildungssystems von gestern, welches sich in wesentlichen Bereichen als ungeeignet und kontraproduktiv herausgestellt hat, die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft meistern?

Das österreichische Pflichtschulgesetz, um ein Beispiel zu nennen, müsste nur in wenigen Punkten geändert werden, und schon wäre ein großer Schritt in Richtung Bildungsfreiheit getan. Die österreichischen Freilerner (freilerner.at) bemühen sich seit Jahren, mit Politiker:innen und Behördenvertreter:innen ins Gespräch zu kommen, um eine gesetzlich abgesicherte Wahlfreiheit hinsichtlich des eigenen Bildungswegs zu erreichen. 2019 wurde ein Positionspapier mit dem Titel »Alternativen zur Externistenprüfung – Überblick, Fakten & Lösungen zur Realisierung informeller Bildungswege« erstellt. Im Gegensatz zu Deutschland ist »häuslicher Unterricht« in Österreich erlaubt. Die jährlich geforderten Externistenprüfungen nach dem Lehrplan öffentlicher Schulen verhindern allerdings das selbstbestimmte, außerschulische Lernen im eigenen Tempo und gemäß den eigenen Interessen.

Alternativen zur Externistenprüfung

In besagtem Positionspapier von freilerner.at werden Argumente und Lösungswege angesprochen, um eine größere Vielfalt im Bildungsbereich und damit eine größere Auswahl an Möglichkeiten zu realisieren. Eine der leicht umsetzbaren Alternativen ist ein neues Modell, das sich »Prozessorientierte Begleitung informeller Bildungswege (ProBiB)« nennt. Es soll als Ergänzung zur momentan einzigen Möglichkeit für Menschen im »häuslichen Unterricht«, der Ablegung von Externistenprüfungen, dienen. Im Mittelpunkt stehen der junge Mensch, sein Wohlergehen und seine Lern- und Entwicklungsprozesse. Das Konzept sieht eine neu zu schaffende, nicht-behördliche, unabhängige und weisungsfreie Stelle, die die Begleitung koordiniert und verantwortet, vor. Der Fachbeirat soll aus Fachleuten aus den Bereichen Pädagogik und Psychologie, aus Menschenrechtsexperten sowie aus Personen mit langjährigen Erfahrungen mit freien und selbstbestimmten Bildungswegen bestehen. Dieser unabhängige Fachbeirat setzt Begleitungsteams ein, die mit den jungen Menschen und ihren Eltern in Kontakt treten. Die Aufgaben dieser Teams bestehen in der Begleitung der Lern- und Entwicklungsprozesse der jungen Menschen, der Unterstützung eines Umfeldes, das die intrinsische Motivation, das informelle Lernen und die individuelle Entwicklung fördert. Es geht nicht um Kontrolle oder Überprüfung des Wissens, sondern tatsächlich auch um konkrete Unterstützung, falls diese erwünscht ist. Gespräche sollen dabei helfen, Rahmenbedingungen zu schaffen, Herausforderungen zu meistern und Vertrauen in die selbstbestimmten Tätigkeiten und Lernprozesse der jungen Menschen zu gewinnen.

Breite Unterstützung erwünscht

Da von politischer Seite derzeit noch keine ernsthafte Gesprächsbereitschaft zu erkennen ist, werden auf freilerner.at weiterhin Unterstützungserklärungen und Stellungnahmen gesammelt. Bisher sind Hunderte solcher Unterstützungen eingetroffen, es sollen aber noch viel mehr werden.

Der Erziehungswissenschaftler und Psychotherapeut Dr. Karl Garnitschnig schreibt in seiner Stellungnahme: »Es wäre jedenfalls eine strukturelle Gewalt am Kind, wenn man die Externistenprüfung wie in Schulen durchführte. Es wäre eine primitive Form der Anwendung des Schulgesetzes. Dies hat auch nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Gerecht ist es, jeden in der Weise zu prüfen, wie es seiner Entwicklungsdynamik entspricht.«

Dr. Ulrich Remus, Universitätsprofessor für Wirtschaftsinformatik, bringt eine weitere Sichtweise ins Spiel: »Gerade Absolventen alternativer Bildungswege, wie z. B. Freilerner, bringen solche Kompetenzen (Anm.: Kompetenzen zur Problemlösung, zum kritischen Denken, zur Kreativität und zum selbstbestimmten lebenslangen Lernen) mit. Dadurch, dass sie sich in eigene Projekte vertiefen können, kann eine ganz andere Art des nachhaltigen Lernens stattfinden. Nun versteht sich von selbst, dass eine jährliche Externistenprüfung nach standardisiertem Lehrplan diesen Lernfluss unterbrechen würde, mit der Gefahr des Verlustes an intrinsischer Lernmotivation und mit entwicklungspsychologisch tiefgreifenden Folgen. Ich plädiere deshalb für eine Bildungsvielfalt, die wieder Vertrauen in die Entwicklung und das Lernen unserer Kinder schenkt, anstatt sie mit Zuckerbrot und Peitsche hin zu Bulimielernen und passivem Informationskonsum zu erziehen.«

Unterstützung kommt auch von Experten aus Ländern mit diesbezüglich großen Erfahrungswerten, beispielsweise von Peter Gray, Alan Thomas, Naomi Aldort, Grace Llewellyn, Michael Mendizza und Blake Boles, von bekannten deutschsprachigen Autoren und Fachleuten wie Lienhard Valentin oder Karen Kern, vom Filmemacher Erwin Wagenhofer ( Alphabet ), von Experten aus Wissenschaft, Pädagogik und Wirtschaft, von Praktikern im Schulbetrieb und nicht zuletzt von zahlreichen Menschen, die sich neue Perspektiven für junge Menschen erhoffen und erwarten. Der Schlusssatz aus der persönlichen Stellungnahme von Alan Thomas, der seit vielen Jahren informelles Lernen wissenschaftlich erforscht, sagt wohl alles: »Meiner Erfahrung nach ist die beste Art herauszufinden, wie sich Kinder ein Verständnis von der Welt aneignen, mit ihnen und ihren Eltern zu reden.« Genau darum geht es im Begleitungskonzept ProBiB: Mit den betroffenen Familien zu reden, ihnen zuzuhören und sie bei Bedarf zu unterstützen, statt auswendig Gelerntes abzuprüfen, sie zu kontrollieren und unter Druck zu setzen.

Recht auf Bildung vs. Schulpflicht

Unsere Welt ist dabei, aus den Fugen zu geraten. Wo, wenn nicht bei der Bildung, sollte primär angesetzt werden, um die gegenwärtigen Krisen zu lösen? Und welche Art von Bildung, wenn nicht eine freie, verantwortungs- und respektvolle, könnte besser dazu geeignet sein, eine Welt voll Freiheit, Verantwortung und Respekt aufzubauen?

Es ist höchste Zeit, Bildung als ein individuelles Recht jedes Menschen ernst zu nehmen. Das Recht auf Bildung als simple Schulpflicht umzudeuten, ist zynisch, vor allem, wenn das gegen den Willen der Betroffenen geschieht. Wahlfreiheit in der Bildung braucht gesetzliche Rahmenbedingungen und ein wenig Vertrauen in Entwicklungsprozesse. In anderen Ländern ist das bereits möglich, in Österreich und in Deutschland leider noch nicht. Ändern wir das!

Harald Krisa

Artikel samt Quellenverzeichnis auf Unerzogen
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