Zeitlos Lernen, Teil 1

Im „Aufleben, Zeitschrift für Pädagoginnen und Pädagogen in Tirol“ ist im Frühjahr 2021 ein Artikel unseres Vereinsmitglieds, Mag. Marie Sophie Frei, mit dem Titel „Zeitlos lernen“ erschienen:

Außerschulisches Lernen aus kognitivwissenschaftlicher Perspektive
Ein Leben ohne Schule? Dies klingt für viele Zeitgenossen unvorstellbar und ein wenig nach Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf – verbrachten doch fast alle Menschen den Großteil ihrer Kinder- und Jugendzeit in institutionellen Bildungseinrichtungen. Je nachdem, welche Erfahrungen die Einzelnen dabei machen durften oder mussten, fallen die Erinnerungen daran eher schwer oder leicht und werden entweder romantisiert oder realistisch dargestellt. Diejenigen, die am meisten unter dem Schulsystem gelitten haben, sind dabei oft diejenigen, die am vehementesten auf der Aufrechterhaltung des Status quo beharren und jüngeren Generationen grundlegende Veränderungen am wenigsten zugestehen wollen.
Es gibt jedoch auch Menschen, die sich und anderen eingestehen können, sie hätten leichter und nachhaltiger gelernt, hätten sie sich am Lernort wohlgefühlt, freiwillig aufgehalten und sich mit Inhalten beschäftigen können, die inhaltlich, methodisch und vom Lernzeitpunkt her im Einklang mit ihrem jeweiligen individuellen Entwicklungsstand gewesen wären. Diese Wahrnehmung ihrer eigenen Lernprozesse ist kein antiautoritäres Hirngespinst und unterliegt keiner Weltanschauung. Sie reflektiert im Grunde genau das, was die unterschiedlichen Kognitionswissenschaften seit den 1960er Jahren fortdauernd erforschen und beweisen: Lernen ist eine hochgradig persönliche, individuell durchzuführende, autonome und kreative Tätigkeit, die die Lernenden und nicht die Lehrenden in den Mittelpunkt stellen muss.
Insofern lautet die wissenschaftliche Reaktion auf die Frage: „Lernen außerhalb der Schule?“: „Wieso eigentlich nicht?“

Außerschulische Lernwege sind in den meisten Staaten der Erde legal und anerkannt. Junge Menschen, die sich selbstbestimmt gebildet haben und die es gewohnt sind, selbstständig und kreativ zu denken, sind in vielen Wirtschaftsbereichen, wie etwa den High Tech- und Innovations-Unternehmen im Kalifornischen Silicon Valley, regelrecht gesucht und werden hofiert. Gerade in den USA, deren Bürger sich historisch bedingt ein gesundes Selbstbewusstsein gegenüber der Bevormundung durch den Staat bewahrt haben, betrachten die Bildung ihrer Kinder als höchstpersönliche Angelegenheit, bei der sie vom Staat unterstützt, jedoch nicht gegängelt werden wollen. Die „School Choice“-Philosophie bietet Kindern und deren Eltern somit völlig selbstverständlich das Recht, die Bildung ihrer Kinder selbst in die Hand zu nehmen und diese zu Hause lernen zu lassen, wenn ein Schulbesuch aus irgendwelchen Gründen nicht in Frage kommt.

Homeschooling: eine legale Bildungsart
Auch in vielen anderen Ländern, wie Kanada, Australien, Neuseeland, dem Vereinigten Königreich, Südafrika sowie auch in vielen europäischen Staaten, wie Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Polen, Österreich, Russland, in Südamerika und Asien ist Homeschooling eine legale Art der Bildung. Während manche Länder den Bildungsfortschritt im häuslichen Unterricht verpflichtend staatlich überprüft sehen wollen, ist in anderen Ländern das so genannte Freilernen, bei dem Kinder ihrem eigenen, intrinsischen Lehrplan folgen, legal und wird sogar staatlich gefördert.

Das Lernen außerhalb der Schule kann vielerlei Erscheinungsformen haben und der Übergang von einer Lernform zur anderen kann aus den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien erwachsen. Während Homeschooling zuweilen jedes Lernen außerhalb der Schule bezeichnet, verstehen Insider unter klassischem Homeschooling den Unterricht, im Sinne von Instruktion, durch Eltern, Haus- oder Online-Lehrer in häuslicher Umgebung. Dabei folgen die Beteiligten entweder einem staatlichen oder auch einem selbstauferlegten Lehrplan. Die Kinder sind in dieser Lernsituation grundsätzlich nicht frei bezüglich des Lerninhalts.
In etlichen Staaten, wie in Österreich, wird der Lernfortschritt im Homeschooling durch staatliche Externistenprüfungen festgestellt. Wer den staatlich vorgegebenen Lehrstoff nicht beherrscht, muss das Schuljahr in einer Schule wiederholen. Deshalb eignen sich die Kinder die Lernthemen in der Regel nicht aus intrinsischer Motivation an und folgen deshalb nicht ihren eigenen Lerninteressen bzw. -Bedürfnissen. Der Druck und der zu bewältigende Lehr- bzw. Lernstoff wächst mit zunehmender Klassenzahl enorm an. Im Gegensatz zu regulären Schülerinnen und Schülern dürfen Homeschoolers keine Prüfung wiederholen sowie keine Klasse überspringen oder wiederholen. Ähnlich wie bei einer Maturaprüfung müssen sie den gesamten Jahresstoff der prüfungsrelevanten Haupt-und Nebenfächer am Schuljahresende an einem bis zwei Tagen parat haben.

Unter Deschooling versteht man indessen den Übergang vom Lernen in einer Schule zum häuslichen Unterricht. Je nachdem wie belastend der Schulbesuch durch Mobbing, Erschöpfung, Missbrauch oder der Vernachlässigung kindlicher körperlicher oder seelischer Bedürfnisse gewesen war, benötigt dieser Übergang eine gewisse Zeit der Erholung bis zum neuerlichen Aufkommen kindlicher Neugierde bezüglich neuer Lerninhalte, seien sie vorgegeben oder intrinsischer Natur.

Unschooling bezeichnet schließlich das „Freilernen“, also das freiwillige Lernen nach eigenem, intrinsischem Lehrplan in Themenbereichen oder Fähigkeiten, die die jungen Menschen wirklich aus sich heraus stark interessieren und die sie in Begleitung ihrer Eltern oder anderer geeigneter Personen erlernen und perfektionieren wollen.

Das Aufkommen der Kognitionswissenschaften
Die Kognitionswissenschaften beschäftigen sich mit menschlichen Denk-, Erkenntnis- und Verstehensprozessen, also mit all dem, was mit menschlicher Informationsverarbeitung im Gehirn zu tun hat. Zu ihren Teildisziplinen gehören die Psychologie, die Hirnforschung bzw. Neurobiologie, die erkenntnistheoretisch arbeitende Wahrnehmungsphilosophie und schließlich die kognitive Linguistik, die sich mit Forschungsgegenständen, wie Wahrnehmung, Verständnis und Informationsverarbeitung im Gehirn durch Sprache beschäftigt.
Historisch betrachtet, war die Erforschung des Lernens im Allgemeinen stets eng an Beobachtungen und Einsichten über das Erlernen von Sprache(n) geknüpft. Damit verbunden sind daher Fragestellungen, was Sprache eigentlich ist, sowie die Betrachtung dessen, was man kann oder können muss, wenn man eine Sprache beherrscht sowie was dazu führt, dass man sie überhaupt lernen will.

Strukturalismus und Behaviorismus
Um den Paradigmenwechsel in der Erkenntnis, was Lernen eigentlich ist, in seiner fundamentalen Tragweite zu verstehen, ist eine Darlegung dessen, was man vor der so genannten kognitiven Wende für Lernen gehalten hatte, unabdingbar. Im linguistischen Strukturalismus, der Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschte, wurde Sprache als Struktur bzw. als System betrachtet. Demnach bedeutete das Erlernen einer Sprache das Beherrschen der phonetischen, morphologischen und syntaktischen Strukturen einer Sprache. Der Fokus lag auf dem einzelnen Puzzleteil und nicht auf dem großen Ganzen. Der größte einzelne Forschungsgegenstand war deshalb der (zusammenhangslose) Satz als syntaktische Einheit. Wenn dieser gut gelang, dann war alles gut.
Während die Analyse von linguistischen Segmenten der wissenschaftlichen Beschreibung von Sprache durchaus dienlich war, spielten die praktische Sprachanwendung, sprachliche Sinnzusammenhänge, Textverständnis und reale Kommunikation noch keine Rolle. Auch in nichtsprachlichen Bereichen, landläufig „Fächer“ genannt, sollten Lernende gezielt einzelne, zusammenhangslose Elemente, Strukturen und Ausschnitte beherrschen, deren Sinnhaftigkeit sich bestenfalls zu einem späteren Zeitpunkt im Gesamtzusammenhang erweisen würde. Die verhaltenspsychologische Theorie, die das Lernverhalten bei Mensch und Tier im Zeitalter des Strukturalismus unterfütterte, war der Behaviorismus.
Nach behavioristischer Auffassung ist Lernen die adäquate und vorhersehbare äußere Reaktion (response) auf einen zuvor zielgerichtet gesetzten verstärkenden oder abschwächenden Reiz (stimulus). Lernen ist demnach Verhaltensänderung und keine kognitive Tätigkeit. Sowohl der Strukturalismus als auch der Behaviorismus erfuhren ihre Blüte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, in der die Industrialisierung und die Technikgläubigkeit ihren Boom erlebten. Das Lernen wurde als quasi-automatisierte, fantasielose Reproduktion von Wissen betrachtet:
Auf einen bestimmten, möglichst fehlerfreien Input wurde ein identischer, absolut vorhersehbarer, fehlerfreier Output erwartet.
Alle Aufmerksamkeit im Lernprozess galt daher den Lehrern und Lehrerinnen, die den Schülern diesen möglichst perfekten Input liefern sollten. Pattern Drills, also das häufige Wiederholen und Üben von Strukturen, waren und sind methodische Elemente der behavioristischen Lerntheorie.
Fehler sind unter diesen Bedingungen zu vermeiden, denn sie sind das unerwünschte, messbare äußere Zeichen, dass die Reproduktion nicht funktioniert. Nach behavioristischer Überzeugung galt (und gilt leider häufig immer noch), dass durch entsprechende Sanktionierung von Fehlern, also durch Tadel, schlechte Benotung und Beschämung einerseits oder durch Belohnung, Lob und gute Noten andererseits, Reize gesetzt werden, die das weitere Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler unmittelbar steuern und kontrollieren können.
Diejenigen, die über negative wie positive Sanktionen zu entscheiden hatten, waren die Lehrerinnen und Lehrer. Sie hatten das Machtmonopol in der Klasse, so wie es draußen im restlichen Leben ebenfalls Personen gab, die über andere Personen urteilen und diese bestrafen konnten. Die Rolle der Lernenden hatte nach behavioristischem Lernverständnis also absoluten Objektcharakter. Was in ihrem Gehirn, in ihrem Gemüt und ihrer Seele vor sich ging, war irrelevant, da der Behaviorismus die Introspektion aufgrund der mangelnden Messbarkeit als unwissenschaftlich betrachtete. Die Rolle der Lernenden war im Grunde die von Papageien, die zuvor Gesagtes fehlerlos imitieren und nachsprechen sollten.

Marie-Sophie Frei
Kognitionswissenschaftlerin/Linguistin,
Amerikanistin und Juristin

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